Hamas und die blockierte Freiheit: Wem hilft die politische Isolation?

Die tödliche Kommandoaktion auf See wirft Fragen auf, die über die Einhaltung internationaler Konventionen und die Bestellung unabhängiger Untersuchungskommissionen hinausgehen. Unbestreitbar hat der Angriff auf den Hilfskonvoi die internationale Aufmerksamkeit auf Gaza und die politische Perspektivlosigkeit der Isolationspolitik gelenkt. ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zum Nahen Osten und Nordafrika.

In den meisten internationalen Reaktionen auf die Kaperung der Marvi Marmara und die Tötung türkischer Friedensaktivsten in internationalen Gewässern geht es um die Einhaltung internationalen humanitären Rechts durch alle Konfliktparteien. Als höchste politische Autorität in Fragen der internationalen Sicherheit und des Völkerrechts hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Israel aufgefordert, eine sofortige, unabhängige, glaubwürdige und transparente Untersuchung des israelischen Angriffs zuzulassen. 

Die tödliche Kommandoaktion auf See wirft jedoch Fragen auf, die über die Einhaltung internationaler Konventionen und die Bestellung unabhängiger Untersuchungskommissionen hinausgehen. In der israelischen Aktion kulminiert zugleich die Krise einer Politik, die beim Umgang mit den politischen Problemen des Gaza-Streifens auf militärische Einsätze und ökonomische Blockade gesetzt hat. Diese Politik wurde nicht allein von der israelischen Regierung betrieben, sondern auch von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Sie begann mit den internationalen Reaktionen auf den Wahlgewinn der Hamas im Januar 2006. Die Islamisten entschieden damals mit ihrer Liste „Veränderung und Reform“ die allseits als frei und demokratisch anerkannten Wahlen zum palästinensischen Legislativrat, dem Parlament der Autonomiebehörde, für sich. Daraufhin stellten die im Nahost-Quartett vertretenen USA, EU, Russland und die Vereinten Nation der Hamas Bedingungen für direkte Kooperation. Die Kriterien des Quartetts beinhalten ebenso die Anerkennung Israels und der bisher erzielten Verhandlungsergebnisse im Friedensprozess wie auch den Verzicht auf Gewalt gegenüber Israel. Die kategorische Weigerung der Hamas, auf diese Bedingungen einzugehen, und das strikte Beharren des Quartetts haben eine politische Entwicklung begünstigt, die Gewalt, Krieg, Blockade und humanitäre Not in Gaza zur Folge hat. Trotz der Quartett-Kriterien formierte die Hamas zunächst eine neue Regierung, nachdem sie vergeblich nach Bündnispartnern für eine große Koalition gesucht hatte. Die weiteren Wendepunkte dieser Entwicklungen waren die Entführung eines israelischen Soldaten durch militante Gruppen aus Gaza kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Libanon, das Scheitern der in Mekka ausgehandelten palästinensischen Regierung der nationalen Einheit, die gewaltsame Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen und die nicht-verfassungskonforme Bildung einer Regierung in der Westbank unter Ausschluss der Hamas, sowie schließlich der Gaza-Krieg, der am 27. Dezember 2008 begann. Nach dem Krieg scheiterten alle Bemühungen, die Westbank und den Gaza-Streifen in einen gemeinsamen, konstitutionellen politischen Prozess zu lenken. Das vierjährige Mandat des Legislativrats und des Präsidenten ist abgelaufen. Gemeinsame Wahlen wurden nicht durchgeführt. Der Status Quo bietet jedoch weder einen Ausweg aus der ökonomischen und humanitären noch aus der politischen Krise.

Blockade als Kollektivstrafe
Die jetzige Blockade des Gaza-Streifens wurde 2006 verhängt und nach der gewaltsamen Machtübernahme durch die Hamas drastisch verschärft. Durch die Kontrollstellen zum Gaza-Streifen kamen nur noch bestimmte humanitäre Güter. Daran änderten auch die Hilfszusagen der internationalen Gemeinschaft in Höhe von 4,4 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau nach dem Krieg nichts. Zement, Metall und andere dringend für den Wiederaufbau benötigte Baumaterialen gelangen auf legalem Wege nicht nach Gaza. Die Blockade stellt somit eine Kollektivstrafe dar und ist völkerrechtswidrig, weil sie die Zivilbevölkerung in Gaza für die Handlungen politischer Gruppen und Bewegungen haftbar macht, auf die sie nur begrenzten Einfluss ausübt.

Die Isolierung des Gaza-Streifens begann jedoch schon im Jahr 2000 nach dem Ausbruch des palästinensischen Aufstands, der zweiten Intifada, als schrittweise der Personen- und Warenverkehr eingeschränkt wurde. Somit hat die Blockade die ohnehin schon stark geschwächte, von Israel dominierte Wirtschaft in Gaza endgültig stranguliert und die Mehrheit der Bevölkerung in noch größere Abhängigkeit gebracht. Gleichzeitig ist es der Hamas gelungen, die Blockade durch unterirdischen Schmuggel zu umgehen. Die zum Erliegen gekommene Versorgung über die israelischen Kontrollpunkte wurde durch die „Wirtschaft der 1.000 Tunnel“ ersetzt. Neue soziale und wirtschaftliche Gruppierungen bildeten sich heraus, deren Aufstieg eng mit dem unkontrollierten Warenfluss aus Ägypten und der politischen Dominanz der Hamas verbunden ist. Die bisherige, vom Warenimport und –export über Israel abhängige business community muss nun neuen, von Hamas beeinflussten Gruppen von Importeuren und Händlern Platz machen. So sind die Bautätigkeit mit geschmuggeltem Zement, die Eröffnung von neuen Restaurants und der Schmuggel von Luxusgütern nach Gaza zu erklären. Der Großteil der Bevölkerung hat keinen Anteil an dieser Schwarzmarkt- und Krisenwirtschaft.

Hamas konnte politische Machtbasis ausbauen
Ebenso ist die Politik der politischen Isolation kontraproduktiv. Nach der politischen Spaltung hat die Hamas ihre politische Machtbasis in Gaza konsolidiert. Es gibt in Gaza keine nennenswerte organisierte politische Opposition mehr, die die Kontrolle der islamistischen Bewegung ernsthaft gefährden könnte. Nach der Machtübernahme scheint sich die Hamas am ehesten von radikal-fundamentalistischen Gruppierungen innerhalb des islamistischen Spektrums, den so genannten Salafisten, herausgefordert zu fühlen. Diese fordern unter anderem eine sofortige „Islamisierung“ des Rechtssystems und die Wiederaufnahme von Militäraktionen gegen Israel. Im Gegensatz dazu hält Hamas eine Änderung der Gesetze für verfrüht und sorgt mit ihren Sicherheitskräfte weitgehend für die Einhaltung eines unilateralen Waffenstillstands.

Die Blockade und die politische Isolation haben die Hamas also nicht daran gehindert, in dem winzigen Küstenstreifen ein politisches und soziales Experiment durchzuführen. Die Islamisten sind trotz Krieg und Blockade die  vorläufigen Sieger in einem komplexen Machtspiel um nationale Unabhängigkeit, Widerstand gegen militärische Besatzung und regionale Gesellschaftspolitik. Sie haben es geschafft, sich in einem Teil der palästinensischen Gebiete durchzusetzen und scheinen langfristig Chancen zu haben, auch in der Westbank wieder eine politische Rolle zu spielen. Als Indikator dafür kann ihr Verhalten im Vorfeld der Kommunalwahlen in der Westbank am 17. Juli gelten. Sie nehmen zwar nicht an den Wahlen teil, Beobachter gehen aber davon aus, dass ihre Anhängerschaft durch die gezielte Wahl von Nicht - Fatah Kandidaten oder durch massive Wahlenthaltung einen starken Einfluss auf den Wahlausgang haben kann.

Zweistaatenregelung kann nicht ohne Gaza funktionieren
Es ist noch zu früh, um abzusehen, welche Auswirkungen der Angriff auf den Hilfskonvoi haben wird. Unbestreitbar hat er die internationale Aufmerksamkeit auf Gaza und die politische Perspektivlosigkeit der Isolationspolitik gelenkt. Weitere Schiffe werden sich auf den Weg machen. Die Forderungen nach der Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade werden nicht verstummen. Sogar in der US-Regierung wird laut über Alternativen zur Blockade nachgedacht. Allerdings wird großes politisches Geschick nötig sein, um einen politischen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Dabei wird es darauf ankommen, die Westbank nicht gegen Gaza oder in anderen Worten „Fatah nicht gegen Hamas“ auszuspielen, sondern Bedingungen für eine institutionelle Zusammenführung beider politischer „Welten“ zu schaffen. Die von der internationalen Gemeinschaft befürwortete Zweistaatenregelung kann ohne Gaza nicht funktionieren. Allein auf einen Erfolg der indirekten Verhandlungen zur Konfliktregelung zwischen Mahmud Abbas und Benjamin Netanyahu zu setzen, führt in die Sackgasse. Es muss gleichzeitig nach einer Lösung für die politische Situation des Gaza-Streifens gesucht werden. Dabei müssen Optionen entwickelt werden, die zu einer Minderung des Konfliktpotentials beitragen und alle relevanten politischen Kräfte, auch die Hamas, in einen politischen Prozess integrieren.

Joachim Paul ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah

 
 

Mehr zum Thema Gaza & dem Angriff auf den Hilfskonvoi am 31. Mai 2010